Ein durchaus vertrauter Einstieg, ein sanftes Gleiten, ein lang gehaltener, langsam anschwellender Ton, umspielt von den Klängen einer Orgel. Filmmusik? Erst nach langen 46 Sekunden «Staub» setzt das Schlagzeug einen ersten entschiedenen Akzent im akustischen Fluss, nimmt aber keinen Einfluss auf das Tempo des Tracks, sondern unterstreicht, ungewöhnlich genug, vielmehr dessen Langsamkeit. Kein Zweifel möglich, wir befinden uns auf Bohren-Terrain, in Bohren-Country, das 2008 überraschend den Namen «Dolores» bekommen hat. Aber noch etwas ist anders, etwas ist bislang immer anders gewesen. Reden wir von der Attacke der Bohren-Legende auf die jeweilige Gegenwart: 20 Jahre sind kein Pappenstiel. Man sollte sich wirklich einmal die Zeit nehmen, «Gore Motel» (1994) oder «Midnight Radio» (1995) tatsächlich wieder einmal zu hören(!), um den erstaunlichen Weg zu rekapitulieren, den diese vermeintlich so statische Formation Bohren seit 1988 (Gründung), seit 1994 (Albumdebüt) tatsächlich zurückgelegt hat. Aber ist «zurückgelegt» in diesem Zusammenhang überhaupt ein passendes Wort? Orgelblut. Was tropft denn da? Eine Orgel existierte bislang im experimentierfreudigen Klangkörper, der sich Bohren & Der Club of Gore nennt, noch nicht und diese Orgel kommuniziert «munter» mit dem Fender Rhodes. Später wird noch ein Vibraphon hinzukommen, was im Bohren-Kosmos einen vergleichbaren Effekt wie einst die Verdoppelung der Bässe darstellt. Lasst uns also ruhig mal über sorgfältig überlegten Orchestrierungen bei Bohren reden! Nun ist das Mülheimer und Kölner Quartett seit jeher für Überraschungen gut gewesen. Auf der Basis der vielfach kolportierten Legende von der handwerklich nicht ganz so begnadeten Metalband, die kurzerhand das Tempo derart radikal aus dem Spiel nimmt, bis man jeden Ton, der aus den Lautsprechern tröpfelt, in aller Ruhe per Handschlag begrüßen kann, entwickelte sich in der öffentlichen Wahrnehmung der Band rasch ein zwiespältiges Klang-Alleinstellungsmerkmal, das die Dynamik der nunmehr sechs Alben umspannenden Klangforschungen allerdings nicht erfasst. Bohren erkennt man zwar sofort, aber Bohren verdienen es auch, gehört zu werden. Soviel Zeit muss sein! Bohren dekonstruieren nicht nur die Parameter von Zeit und Raum, sondern arbeiten auch mit einem anderen Begriff von Virtuosität. Wobei gilt: Keinen Rock mehr zu spielen, bedeutet noch lange nicht, Jazz zu spielen. Bohren improvisieren nicht. Es macht tatsächlich einen Riesenunterschied, ob man Bohren liest oder Bohren hört. Liest man Bohren, dann stößt man immer wieder auf dieselben Begriffe, die das Irritierende und Ungewöhnliche dieser Band metaphorisch einzufangen versuchen. «Düster», «dunkel», «schaurig-schön», «hypnotisch», «mysteriös», «unbehaglich» sei diese Musik. Wo die Töne Luft lassen, darf assoziiert werden. Da darf das berühmte «Kino im Kopf» nicht fehlen, wo offenbar in der Regel Filme von David Lynch mit der Musik von Angelo Badalamenti laufen. Als Bohren nach den beiden Alben «Gore Motel» und «Midnight Radio» endgültig die Gitarren ausklinkten und mit Christoph Clöser einen Saxophonisten in die Band holten, wurden die Karten neu gemischt, doch die mit der graphischen Gestaltung der ersten beiden Alben verbundenen Assoziationsräume wirken übermächtig fort. Was mit Saxophon, Piano, Orgel, Fender Rhodes, Vibraphon, Bass und Schlagzeug wie eine extrem verlangsamte, aber durchaus melodiöse Mischung aus Easy Listening und Bar Jazz klingt, wird bei Bohren eben schnell zum «Horror Jazz». Sagt man «Jazz» dazu, weil radikal entschleunigter Ex-Doom-Metal in Moll nicht mehr funktioniert, wenn Metal fehlt? Mit Bohrens Musik verhält es sich ähnlich wie mit den so einfachen wie experimentellen Filmen von James Benning («13 Lakes», «Ten Skies»): Wie reagieren unsere Sinne, wenn das längst gewohnte Bombardement mit Informationen (visuell oder akustisch) einmal ausbleibt, wenn wir auf uns selbst zurückgeworfen werden und tatsächlich Zeit bekommen: zu sehen und zu hören. Als Hintergrundmusik zum Zeitunglesen eignet sich die Musik von Bohren übrigens überhaupt nicht. Bohren ist das Gegenteil von Ambient. Es ist ein ökologisches Angebot an den Hörer, sich noch einmal mit der Kraft des Essentiellen zu konfrontieren. Jeder Ton scheint hier mit unendlicher Geduld gewählt zu sein, gleichzeitig verlangt die Tonalität eben jene Wahl. Die Reinheit und Klarheit dieses Albums entsteht gewissermaßen durch die Musiker hindurch, automatisch, unwillkürlich. Aus heutiger Perspektive scheint «Black Earth» (2002) ein Versuch, die Möglichkeiten der auf «Sunset Mission» (2000) gewagten Neuerungen einmal in ganzer Pracht aufzufächern, während das folgende konzeptuelle Meisterwerk Geisterfaust“ (2005) die Prinzipien der Reduktion und Verdichtung derart auf die Spitze trieb, das es selbst alte Fans das Fürchten lehrte. Doch zugleich experimentierte die Band auch auf «Geisterfaust» mit neuen Klangfarben (Tuba, Bassposaune, Chor) und erkundete mit Verve eine weitere Option von Bohren. Nichts aber liegt dieser Band ferner, als sich zu wiederholen. Der eigenwillige Produktionsrhythmus von Bohren spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Hier wird jeder Schritt bedacht.
Überraschung! Draußen brennt noch Licht! Das neue Album «Dolores» offenbart nun ein weiteres Mal eine neue Seite von Bohren & Der Club of Gore. Bandintern erntet man keinen Widerspruch, wenn man von einem Gegenentwurf zu «Geisterfaust» spricht, der allerdings nicht auf den Bruch, sondern auf den Prozess setzt.
Stücke wie «Orgelblut», «Faul» oder «Welten» fügen sich durchaus ins Veröffentlichungskontinuum. «Dolores» wurde allerdings nicht als Gegenentwurf «konzipiert» (mit Konzepten arbeitet diese Band nicht, eher »rundet« man das Endprodukt am Schluss durch Tracktitel und Covergestaltung ab), sondern man hat bei der Arbeit an den Songs zu «Dolores» selbst eine andere, neue Seite entdeckt oder sie vielleicht erstmals zugelassen. Stücke wie «Karin» oder «Still am Tresen» bezeichnet Christoph Clöser im Gespräch als «Easy Listening-Schleicher». Erstmals wird man das Gefühl nicht los, es hier nicht nur aufgrund der Formate tatsächlich mit potentiellen Singles zu tun zu haben. Die Stücke auf «Dolores» sind für Bohren-Verhältnisse signifikant kürzer, allein «Schwarze Biene (Black Maja)» durchbricht die 8-Minuten-Grenze. Die Songstrukturen sind zudem klarer, die Melodien (Vibraphon!) sind greifbarer. Reden wir also nicht lange darum herum: Mit einigen Stücken auf «Dolores» bewegen sich Bohren & Der Club of Gore für ihre Verhältnisse schon ganz entschieden in Richtung Pop. Ganz beiläufig entwickeln sich die Stücke, scheinen nah, zugänglich und bleiben doch noch immer geheimnisvoll. Die Orgel und eine gewisse Räumlichkeit der Produktion verleihen «Dolores» einen erhabenen, sakralen Touch, der allerdings der Idee der Entschleunigung auf immer schon innewohnte. Jetzt wird er nach außen gekehrt, unüberhörbar. So entschieden sich Bohren & Der Club of Gore sich mit einigen Stücken also neu zu positionieren (und damit ihre Fans ein weiteres Mal überraschen!), so bleibt «Dolores» insgesamt in der Schwebe. Die bei Bohren stets wichtige Kontextualisierung der Klänge durch Tracktitel und Covergestaltung macht das sehr deutlich: In Dolores steckt «dolor» (Schmerz), aber Dolores heißen auch die heißblütigen und patenten Kellnerinnen in B-Western, die south of the border spielen. Die Gestaltung des Covers spielt assoziativ und expressiv mit Edvard Munchs «Der Schrei», anatomischen Kupferstich-Studien und «Das Schweigen der Lämmer» (und wahrscheinlich noch mit drei Dutzend weiterer Refenzen, you name them). Tracktitel wie «Schwarze Biene (Black Maja)» oder «Unkerich» (eine Comic-Figur aus dem «Lurchi»-Kosmos) bezeugen, dass die vier Musiker über einen durchaus schrullig-juvenilen Humor verfügen, der bei der bedeutungsschwangeren Rede vom «Horror Jazz» immer mal wieder übersehen wurde. Solche Spannungen zwischen Pathos und Lakonie, zwischen Ernstmachen, Herumalberei und Schulterzucken schützen die unberechenbare Band (auch) vor Vereinnahmungen durchs Feuilleton. Bislang jedenfalls. Fühlte sich «Geisterfaust» immerhin vier Finger lang so unbehaglich an, als würde aus einem abgedunkelten Raum ganz langsam und unerbittlich der Sauerstoff abgepumpt, so wird man jetzt beim Hören von «Dolores» den Eindruck nicht los, gleich würden endlich after all these years die Rollläden hochzogen, die Fenster aufgerissen und herein strömten Sauerstoff und Tageslicht. Ganz beiläufig, ganz alltäglich, ganz frisch.
Eintritt:
15,– Euro VVk plus Gebühr
18,– Euro Abendkasse
15,– Euro Mitglieder
Mit freundlicher Unterstützung
der Kreissparkasse Waiblingen