Zum Geleit

Oktober 2024

Liebe Freund*innen der Manufaktur,

unter Therapeuten gilt es als schöner Zug, den Patienten per Honorarabrechnung dazu zu beglückwünschen, wenn im geduldigen Gespräch etwas zu Tage tritt, was das Unterbewusste längst erfolgreich verdrängt wähnte, so dass das Wiederhochspülen schlicht als eine ungute Überraschung gewertet werden muss. Damit ist nicht gemeint, dass in jeder seriösen Tarantino-Doku unweigerlich der Moment kommt, an dem Harvey Weinstein durchs Bild rauscht. Und auch nicht rauscht, sondern in der Bildmitte, in Cannes, bestens gelaunt in der Bildmitte posiert. Ach ja, those were the days der (scheinbar) harmlosen Pop-Kultur. Alles ein großer Jungssport! Wofür es ja in „The Länd“ ein ganz besonders ausgeprägtes Sensorium gibt. Für Jungssport und für Pop. In diesem Sinne trifft man sich jetzt alle Nas‘ lang zu irgendwelchen Get-togethers an irgendwelchen mehr oder weniger abgelegenen Orten in The Länd, um die regionalen und lokalen Kreativen im Pop-Länd Baden-Württemberg mit all seinen Pop-Büros und Pop-Akademien im Zeichen einer nicht näher definierten „Transformation“ zu vernetzen, „damit Baden-Württemberg als POPLÄND hör- und sichtbar wird“. Gerade auch dort, wo The Länd noch ganz besonders nach „Länd“ riecht, wenn mann/frau/divers morgens das Fenster öffnet. Als nächster Schritt bei der selbstverordneten Agenda der Erkundung des POPLÄNDS bietet sich selbstredend ein Wettbewerb unter den Kreativen an. Titel: „The creative laend-challenge“. Kennt man ja aus Social Media, so etwa die legendäre „Ich kippe mir kaltes Wasser über die Birne“-Challenge. Wer es von den Kreativen bislang noch nicht aus The Länd herausgeschafft hat, darf (noch) mitmachen. Alles erlaubt, allerdings: „Die größten Chancen haben professionelle Arbeiten, die sich mit den Entwicklungen und Herausforderung der Gegenwart auseinandersetzen, zum Beispiel Themen wie Regionalität, Cross-Innovation, Demokratie oder Nachhaltigkeit.“ Eine – selbstredend, wir sind in The Länd – „hochkarätige Jury“ wird schließlich die Auswahl der Besten unter den Besten treffen. Zur Belohnung warten ein Preisgeld von, hoppla?, 1000€ und „eine breit angelegte Social-Media-Kampagne“. Professionelle Kreative werden gewiss hellhörig geworden sein. Deal? Deal! Apropos „Wiederhochspülen“ ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit und Innovation. Erschraken wir doch jüngst gehörig, als wir zur Mittagszeit auf DRadio Kultur Ohrenzeugen der bräsig in sich permanent hinein kichernden Überheblichkeit Harald Schmidts wurden. Um keine noch so billige Pointe verlegen und schwer damit beschäftigt, sich selbst fortwährend für die vermutete eigene Cleverness auf die Schulter klopfend, gab der aus dem Bauch improvisierende Nürtinger seine ganz persönliche Sicht der Dinge zu allerlei Themen des Tages zu Protokoll. Dabei unterstützt von einem fortwährend vor sich hin glucksenden Moderator, der selig jede zynische Pointe des notorischen Besserwessis Schmidt abgluckste, ahnend, dass etwas Glanz von „Dirty Harry“ auf ihn abfärben würde. Damit er einst seinen Enkelkindern erzählen könne: „Damals, als die Sonne der Kultur niedrig stand, warfen selbst großgewachsene Zwerge lange Schatten.“ War sonst noch was? Klar doch, die Gallagher-Brüder haben auf ihre Kontoauszüge geguckt und erschreckt sogleich ein Comeback beschlossen, das jetzt nur noch stattfinden muss. Die Konzertkarten, wiewohl dynamisch bepreist, sind offenbar schon weg. Damit endet eventuell zumindest kurzzeitig der schönste Bruderzwist seit Kain und Abel. Vor Noel und Liam liegen jetzt bis zum Cash-in die Mühen der Ebene.
In einer Art von bedauernswertem Nostalgie-Reflex erinnerten sich Legionen sentimentaler Ü50er sogleich an die zehn größten Songs der Lads, kamen dann leider aber auch bei längerem Nachdenken über drei nicht hinaus. Was wiederum nostalgische Blur- und Pulp-Fans ihrerseits schmunzelnd registrierten. Andere wiederum, jünger oder auch älter als das Oasis-Klientel, wussten eh, dass Oasis zumindest live immer eine Scheißband gewesen sind. Neben diesem überraschend vorgestrigem Brit-Pop-Hype gingen andere Nachrichten fast unter. So hatte ein Terroranschlag im dafür notorischen Solingen nicht nur dem Wahlkampf in Thüringen und Sachsen noch einmal auf der Zielgeraden gehörig Drive verliehen. Weil der Messer-Täter längst wieder in Bulgarien hätte sein müssen, dies aber aufgrund diverser Umstände, Flugpläne und anderer Nachlässigkeiten nicht war, reagierte die Politik nicht etwa mit einer dringend anzuratenden Durchlüftung gewisser Verfahrensprozesse bei Ausländerbehörden und Exekutive, sondern nahm sich lieber gleich das Asylrecht zur Brust. Von derlei Kreativität herausgefordert, nahmen sich die Wähler*innen in Thüringen und Sachsen ein Herz (vielleicht sogar Verstand?) und wählten just so, dass der CDU der Triumph im Halse stecken bleiben muss, wenn die sogenannte „Brandmauer“ aufrechtgehalten wird. Wenn dieser Tage etwas wirklich schockierte, dann war das wahrscheinlich der Schock, mit dem die Medienöffentlichkeit auf die Wahlergebnisse reagierte. Stoff genug für Dutzende Talkshows mit Besetzungen bis runter in die B-Ebene der Politprominenz. Stoff genug für Hunderte Leitartikel, deren lustigster dazu riet, das sentimentale Projekte „Wiedervereinigung“ als gescheitert ad acta zu legen und sich im Westen endlich wieder ein schönes Leben zu machen. Toll auch die Idee, der an politischem Gestaltungswillen völlig desinteressierten Vorsitzenden des BSW vorzuhalten, sie habe sich weder in der Ukraine noch bei einer Tafel blicken lassen, um sich mit der Realität zu konfrontieren. Worauf diese so menschenscheu wie stets antwortete, dies müsse sie gar nicht, sie bekäme schließlich ständig Mails von überall her, weshalb sie stets bestens informiert sei über all die Wünsche und Sorgen des Volkes. Was würden wir geben für einen Blick in diese Mailbox! Für den entsprechenden Soundtrack dieser Tage sorgte dann mit „reimloser Lyrik in unregelmäßigen Rhythmen“ (Brecht) der Sänger und Demokrat Sebastian Krumbiegel, der seiner Omi, die im November 1938 alles gesehen, aber nichts verstanden haben will, signalisierte, beim gemeinsamen Weinen seine Lektion gelernt zu haben: „Nie wieder!“

Eure

Manufaktur

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