Zum Geleit

Juni 2024

Liebe Freund*innen der Manufaktur,

Ob der Mai der zwölfte Temperatur-Rekordmonat in Folge gewesen sein wird? Ihr habt’s vielleicht gelesen – jeder der letzten elf Monate war der wärmste seiner Art. Seit Beginn der Aufzeichnungen.

Aber klar, das wahre Problem unserer heutigen Welt sind diese nervigen Grünen, die sich erdreisten, so zu tun, als ob sie gegen den Klimawandel vorgehen würden! Und die woken Gendersternchen und diese ganze Bevormundung! Kritische Denker wissen: Unser Abstieg in die Hölle des grün-woken Sozialismus hat beim Zwang begonnen, beim Autofahren einen Gurt anzulegen, ihr Schlafschafe (aus uns spricht gerade, falls ihr‘s nicht gemerkt habt, eine seltsame, aber auch irgendwie handelsüblich-altbekannte Mischung aus BILD, AfD, Schwurbler, FDP und Freie-Wähler-CSU-Koalition). Gurte sind unbequem und UNERTRÄGLICH VERNÜNFTIG! Das muss aufhören! Jetzt müssen wir Widerstand leisten, den Klimawandel beschleunigen, die Gurte durchschneiden und mit erhobenem Kopf voraus so richtig männlich durch die Windschutzscheibe fliegen!! Und wenn wir schon dabei sind: Bringt endlich das FCKW zurück in meinen Kühlschrank (Boomer erinnern sich)!!! FRRREEEEIIIIIIIHHHHEEEEEIIIIIITTTTTTT!!!

An die Zukunft und an andere denken, sorgsam mit der Welt umgehen, unser Handeln koordinieren, auf so manchen Konsummüll verzichten, mehr Gleichheit wagen – DAS WÄRE KOMMUNISMUS!!!! Alles kaputt machen, verbrannte Erde hinterlassen, Ausbeutung verschärfen, an den EU-Außengrenzen die Leute in den Tod schicken, langhaarige Klimakleber einknasten und dabei feist und scheiße aussehen – das ist FFFFFFREEEEEEIIIIIHHHHEEEEEEIIIIIIIIIITTTTTTT!!!

Der ganze Irrsinn ist einfach nicht mehr auszuhalten. Auch nicht die Normalisierung des Irrsinns seitens der vermeintlichen politischen Mitte.

Im Mai ist übrigens Steve Albini gestorben, 61jährig, ein Toningenieur, Produzent und Musiker, der den klirrenden (Gitarren-)Sound einer Epoche prägte – und damit auch das, was in der Manufaktur über einige Jahrzehnte hin musikalischer Konsens war. Letztlich ging’s bei Albini nicht nur um den Sound, sondern auch um eine Attitüde – die natürlich zum Sound passte, irgendwie. Antikommerziell, authentizistisch, altpunkig, auch ein bisschen menschenfeindlich. Im „Guardian“ war vor einiger Zeit ein Artikel zu lesen, der Albinis Wandlung bzw. „Evolution“ vorstellte. Vor allem in den 1980ern und 90ern war Albini nämlich das, was man heute einen Edgelord nennen würde (die Alt-Hipster-Streber unter uns mahnen: was man vor fünf Jahren einen Edgelord genannt hätte!) – ein Typ, der Spaß an der Transgression hatte, am Verstoß gegen Anstandsregeln aller Art – und damit auch übles sexistisches und rassistisches Zeug produzierte, vermutlich um des Tabubruchs willen. Rückblickend, so der Guardian-Artikel, ist Albini darauf nicht wirklich stolz, und für die Rechten, die das Transgressive, die Regelüberschreitung „um der Freiheit willen“ für sich beanspruchen, und diese Geste von linken Punks wie ihm gewissermaßen entwendet haben, hatte er nur Verachtung übrig: „However you define ‘woke,’ anti-woke means being a cunt who wants to indulge bigots.“ Das übersetzen wir lieber nur teilweise – „indulging bigots“ heißt, glauben wir, sowas wie „es den Rassisten recht machen wollen“.

Dem haben wir nicht viel hinzuzufügen, außer, dass uns dieser Sound fehlen wird. Ansonsten: Es stehen wieder Wahlen an, Europawahlen. Angesichts der Siegeswelle der Rechtsradikalen in vielen europäischen Ländern und der fröhlichen Bereitschaft deutscher und anderer „Konservativer“, mit Meloni und anderen Faschismus-Verehrer*innen gemeinsame Sache (gegen den grün-woken Terror und GEGEN DIE BEVORMUNDUNG natürlich, das ist die Schnittmenge, und vor allem natürlich GEGEN DIE VIELEN AUSLÄNDER – und immer auch gegen die sinkende Profitrate der fossilen Kapitalfraktionen) zu machen, dürfte das kein erfreulicher Anlass werden. Und das Europaparlament ist bekanntermaßen kein Schaustück der Demokratie. Aber wir gehen trotzdem zur Wahl. Unser Motto diesmal, statt „indulging bigots“: Nazis relativieren. Lasst uns Nazis relativieren! Nein, nicht wie ihr denkt. Sondern: Dafür sorgen, dass der relative Stimmenanteil der Nazis sinkt, weil mehr „von uns“ zur Wahl gehen. In diesem Sinn ein bisschen die Nazis relativieren – sehr viel mehr scheint zurzeit nicht zu erhoffen zu sein. Aber kleine Siege wären immerhin gut für die Moral – und so ganz ist der Glaube daran, dass wir mal wieder in die Offensive kommen, auch nicht gestorben. Denn in unserer „Zeit der Monster“ geht der politische Wetterwechsel manchmal erstaunlich schnell von statten.

Eure

Manufaktur

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