Liebe Freund*innen der Manufaktur,
2024, das Jahr des großen Missvergnügens, lässt nicht locker! It’s the same old song! Europawahl, Landtagswahlen, die Österreich-Wahl – stets wurden wochen-, ja, monatelang die schönsten Menetekel an die Wand gemalt. Oh, mein Gott, was wäre, wenn das, was wir alle befürchten und zwar aus durchaus guten Gründen (falls das Vertrauen auf menschliche Dummheit oder auch moralische Indifferenz als »gute Gründe« durchgehen?) tatsächlich »wahr« wird? Und wenn es dann genau so kam, wie vorhergesagt, dann war die Panik mit Händen zu greifen, dass es tatsächlich so gekommen war, wie befürchtet. Super! Man könnte ewig so weiter machen. Am 5. November wird nun in den USA gewählt werden. Da könnte sich dieses Spiel wiederholen. Aber es könnte durchaus auch noch schlimmer kommen, weil sich der orangene Ex-Präsident auf der Zielgeraden immer mehr auf einem Rachefeldzug gewähnt hat. Und hier kommt nun die Kultur ins Spiel, denn während wir ja seit ein paar Jahren fortwährend mit mehr oder weniger lustigen Anekdoten über „The Donald“ versorgt werden, die einem wahlweise oder auch in nuce den Glauben an die Menschheit, den menschlichen Verstand oder zumindest die US-Demokratie zertöppern, können wir jetzt dank „The Apprentice“ mal einen Blick darauf werfen, wie aus Donald Trump das Monstrum wurde, das uns bis in unsere Träume verfolgt. Und siehe da: der Self-Made-Man Donald Trump erweist sich derart als Kreatur weitaus diabolischer Kräfte aus dem Elternhaus oder der Society Manhattans, dass man fast schon Mitleid mit ihm hat wie mit Frankensteins Kreatur. Wäre da nicht das Finale des Films, das an den Zauberlehrling erinnert, der sich seinem Schöpfer gegenüber vielleicht nicht überlegen, aber deutlich weniger empathisch erweist. Man könnte regelrecht nachdenklich werden – im Kinosaal. Das wiederum bringt uns zur Frage, welche Funktion Kultur in diesen Zeiten der Polykrise spielt oder spielen könnte. Im Oktober spielte das Duo Augn einen denkwürdigen Gig in der Manufaktur. Die Popgeschichte ist reich an Tabubrüchen, was das Verhältnis von bezahlter Dienstleistung und künstlerischer Autonomie angeht. Wir erinnern uns an sehr kurze (The Jesus & The Mary Chain), sehr laute (The Jesus and The Mary Chain; Sonic Youth), sehr verweigernde (Lou Reed), sehr provokante (G.G. Allin; Throbbing Gristle) und ausgesprochen trostlose (Oasis) Konzerte, die allesamt auch als Angriff aufs Publikum verstanden werden konnten. Bei Augn steht nun nicht nur Publikumsbeschimpfung, Veranstalterbeschimpfung und Beschimpfung des Veranstaltungsortes auf dem Programm, sondern auch der ganze erprobte Rest (kurz, laut, verweigernd), manchmal sogar mit der Pointe der Abwesenheit der Künstler, wodurch dann das Konzert zur Listening Session wird. Nimmt man dann noch die Texte von Augn hinzu, kommt man sehr schnell auf eine Meta-Meta-Ebene von Konzert, die gut 50 Jahre Provokation mit 50 Jahre Grenzerkundung Revue passieren lässt – und trotzdem noch funktioniert, weil es eben immer auch eine Einladung zur umfassenden, unberechenbaren Negation ist. Erfrischend! Wer’s konventioneller mag, sollte dringend die Stuttgarter Oper besuchen, wo eine vom Wiener Aktionismus beeinflusste Performance-Künstlerin eine feministische Kirchenkritik auf dem Niveau von Nonnenwitzen nebst einer Portion Surrealismus auf eine Weise in Szene setzt, dass die Feuilletons mehr oder weniger schockiert von Notarzt-Einsätzen im Opernhaus berichten. Und Stuttgart hat einen Skandal, der das Städtchen mehr als bundesweit in die Schlagzeilen bringt. Stadtmarketing, einmal um die Ecke gedacht. Wir fragen uns lediglich: Warum ging diese Inszenierung in Schwerin und Wien so folgenlos über die Bühnen, während im Schwabenländle das Opernpublikum gleich dutzendfach auf schwach macht? Egal! Jede Resonanz auf künstlerisches Wirken ist willkommen in Zeiten, in denen der Rotstift gerade in der Kultur angesetzt wird. Und es muss ja nicht immer nur Provokation sein! Man kann ja auch mal ein melancholisches Märchen wie „Fallende Blätter“ erzählen, wie es Aki Kaurismäki in seinem jüngsten Meisterwerk tut. Eine Liebesgeschichte unter Verlierern in Helsinki, aber vor dem Hintergrund von Cinephilie und einer Pop-Sensibilität, die sich gewaschen hat. Es gilt: „Ich bin deprimiert!“ „Warum?“ „Weil ich so viel trinke!“ „Warum trinkst du so viel?“ „Weil ich deprimiert bin!“ Und immer freitags ist Karaoke. Und die Musik dazu stammt u.a. von den zwei Schwestern von Maustetytöt, die, falls die Zeit hinreicht, auch bei der Schorndorfer Projektion von „Fallende Blätter“ dabei sein werden, um vielleicht ein paar Fragen zum Film oder zur Zusammenarbeit mit Kaurismäki oder allgemeiner zu Finnland und zur Kunst Kaurismäkis zu beantworten, die Kaurismäki selbst wahrscheinlich nie beantworten würde. Anschließend geht’s dann runter in den Saal, wo Maustetytöt dann live diese besondere Form der finnischen Melancholie in ein Live-Set gießen werden. Oder umgekehrt? Und irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass Filme wie „Fallende Blätter“ plus der Live-Performance von Maustetytöt eventuell politisch wie kulturell bedeutsamer sind als spekulativ-voyeuristisch kolportierte Notarzt-Einsätze im Stuttgarter Opernhaus, wenn ein Stückchen Haut gegrillt wird, um sich über ein längst abgewirtschaftetes Christentum lustig zu machen. Um es mit den Dead Kennedys zu formulieren: „We’ve got bigger problems now!“