Zum Geleit

Juli und August 2024

Liebe Freund*innen der Manufaktur,

Sonntag, der 9. Juni 2024. Europawahltag. Huiii! Die Realität hält ihren Einzug auf eine Art und Weise, dass sich manche/r sich noch Tage später – je nach Temperament und Präferenz – etwas verstört, verdutzt, irritiert, ratlos die Augen reibt. Mit der rechten Präferenz gibt es sogar reichlich zu feiern. Aus anderer, demokratischerer Perspektive dagegen macht sich ein Unbehagen breit, während man noch staunt, dass sich die Wahlkreis-Karte der Republik schwarz-blau färbt – mit ein paar rot-grünen Pubertätspickeln. Die paar roten Pünktchen muss man wirklich suchen (Herne, Emden, Eckernfeld); die entsprechenden grünen Pünktchen finden sich vorzüglich in urbanen Räumen mit angegliederter Universität (u.a. Freiburg, Karlsruhe, Köln, Münster, Oldenburg, Kiel, Flensburg). Das Saarland, Rheinland-Pfalz, Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern können mit ihrer Unbeflecktheit hausieren gehen. Wenn man genau hinschaut, meint man die Mauer zu sehen. Irre, after all these years. Noch unbehaglicher wird es, wenn man beginnt, an der schwarzen Oberfläche zu kratzen und es dahinter zumeist auch blau wird. Die Parteien der Ampel-Koalition haben zusammen einen sehr, sehr knappen Vorsprung vor der CDU/CSU. Die Grünen und die SPD verlieren deutlich; die FDP bleibt auf niedrigem Niveau fast stabil. Die AfD liegt bei 15,9%. Dem BSW gelingen aus dem Stand 6,2%; die Linke wird halbiert. So sieht’s also aus! Da atmet man ja schon fast auf, wenn es heißt, Schorndorf habe gegen den Trend gewählt, der AfD nur einen kleinen Erfolg, aber keinen Erdrutsch erlaubt und könne so weiterhin als Bollwerk gegen den Rechtsextremismus fungieren. Ja, Herrschaftszeiten, als kleines gallisches Dorf, oder was? War da nicht mal was? Dieses Potsdam-Treffen und die Re-Migrationsdebatte, die Massendemonstrationen für die Demokratie, dieses dubiose TV-Duell zwischen Höcke und Voigt, die Selbstdemontage der Spitzenkandidaten der AfD in den Wochen vor der Wahl, die Überschwemmungen nach Starkregenfällen in Süddeutschland, die Olaf Scholz den Satz entlockten, ihm sei unangenehm aufgefallen, wie häufig er in den vergangenen Monaten mit Gummistiefel zur Arbeit habe erscheinen müssen. Die Wände der gefluteten Dörfer und Städte sind noch nicht trocken, aber gewählt wird die AfD. Und abgewählt werden aus durchaus guten Gründen die Grünen, die für eine Klimapolitik stehen, die gemacht werden muss, allerdings möglichst so, ohne dass sie jemandem wehtut. Der Rest ist dann business as usual: Wahlanalysen, Debatten und Schuldzuweisungen in Talkshows und Leitartikeln. Nazis, die immer noch empört sind, wenn sie Nazis genannt werden, werden in Talkshows Nazis genannt und empören sich. Die Jugend, die Gruppe der 16 bis 24 jährigen habe »Rechts« gewählt, heißt es. Was falsch ist, denn diese Wählergruppe hat nur nicht länger die Altparteien gewählt, sondern eher die Speziellen, die man gerne die Sonstigen nennt. Wenn Altparteien, dann allerdings tatsächlich eher die AfD als die Grünen. Ein paar Thesen: Die Altparteien hätten zur Europawahl nicht nur der Jugend keine „Erzählung“ anzubieten gehabt, die motivierend gewirkt hätte. Insgesamt sei eine Politikunlust der demokratischen Parteien mit Händen zu greifen, während die nicht-demokratischen Parteien immerhin mit einem (vielleicht naiven) Gestaltungsoptimismus antreten. Meint: Die AfD und auch das BSW glauben tatsächlich daran, dass sie mit den Mitteln der Politik, Dinge, die sie stören, verändern können. Während das Establishment sich in abstrakte Begriffe wie „Transformationsprozesse“ flüchtet, allerdings konkret bestenfalls noch Baustellen benennt, die gerade aus Gründen nicht behoben werden können. Legitimationskrise des Spätkapitalismus? Neuwahlen? Man wird sehen.

Einer dieser anstehenden großen Transformationsprozesse ohne Plan ist beispielsweise die Neuordnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der sich einerseits sein Programm nicht mehr leisten kann, weil Pensionsansprüche erfüllt werden müssen und gleichzeitig mit Schrecken bemerkt, dass ihm „die Jugend“ abhanden gekommen ist. Wobei man leider nicht so genau weiß, ob die Öffis wissen, wer oder was genau die Jugend ist. Der SWR startete im Rahmen der SWR-3-Comedyshow im Rahmen des Stuttgarter Sommerfestivals einen Versuchsballon und verpflichtete Oliver Pocher mit seinem „Liebeskasper“-Programm. Pocher machte, was Pocher immer macht, führte Menschen vor, die Eintritt dafür zahlen, dabei zu sein, wenn Pocher Menschen vorführt. Diesmal flossen Tränen, was den Baby Schimmerlos der StZ/StN motivierte, sich einmal zum Moralapostel aufzuschwingen und wahlweise Pocher oder den SWR oder beide eine Reue abzunötigen. Der Plan schlug fehl, nur der SWR kroch zu Kreuze und sucht nun weiter nach der jugendlichen Zielgruppe. Wie einst Livingstone und Stanley habe man gehofft, mittels Pocher zu einem Milieu vorzudringen, zu dem der SWR bislang keinen Zugang gehabt habe. Derweil kursieren erste Berichte über die Pläne beim HR und bei Radio Bremen. Alles, was dazu zu sagen ist, formulierte Dietmar Dath in der „FAZ“ in seiner Grußadresse zum 70. Geburtstag von Rainald Goetz über Bande:

„Am medienaktuellen Wort stirbt Wahrheit schneller ab als an gesuchteren Wortsorten, nicht weil die Redakteurin oder der Redakteur zur Gleichschaltungsabsprache verschworen wären, wie „Lügenpresse“-Schreier wähnen, sondern weil Redaktionen kleine Milieus sind, die größere mit Debattenstoff versorgen. Das Riechhirn jeder in solchen Dienst geschirrten Schreibkraft lernt schnell, wie und worüber in den betreffenden Milieus geredet wird, bald kann es nicht mehr anders. Audience capture nennt man’s heute, früher hieß es „Leser-Blatt-Bindung“. Online drängen jetzt Absatzängste das Schreiben dazu, dem Publikum so blöde zu kommen, wie dieses Pu-blikum meist gar nicht ist, aber im algorithmen¬erzeugten Affektschwips halt vor sich hin klickt.“ Obacht, dieser Absatz muss vielleicht wiederholt gelesen werden, um seine ganze Pracht zu entfalten!

Irgendwie passt es ins Bild, wenn am 4. Juli die slovenische Kultband Laibach im Rahmen ihrer Opus Dei Tour in der Manufaktur vorbei schauen. Mitte der 1980er Jahre reüssierte die Band durch ihr subversives multimediales Spiel mit dem Zeichenrepertoire des Totalitären, das beispielsweise dem Song „Life is Life“ von Opus drei Oktaven tiefer legte und auf Diabolik queerte. Später sich dann die Beatles („Let it be“), die Stones („Sympathy for the Devil“) oder Shakespeare („Macbeth“) verknöpfte und Abgründe erkundete. Große Kunst, sehr frivol seinerzeit, als man noch mit dem Faschismusverdacht dealte. Heute, mit Nazis over here and Nazis over there, sind wir ein paar Schritte weiter (zurück). Mal sehen, ob Laibach mehr als Nostalgie im Gepäck haben. Könnte auf jeden Fall sehr spannend werden!

Eure

Manufaktur

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