Liebe Freund*innen der Manufaktur,
immer diese Vorurteile! Wenn in Büchern, Fernsehen und Kino in laufenden Ermittlungen sich jemand vom Verfassungsschutz mit an den Tisch setzt, um die Ermittelnden bei der Arbeit zu unterstützen, dann weiß unser popkulturell geschultes Ich, dass es an der Zeit ist, die Zahl der Verdächtigen um mindestens +1 zu erhöhen, jetzt ganz genau aufzupassen und jederzeit damit zu rechnen, eine verschwörungstheoretische Meta-Ebene einzuziehen. Getriggert werden wir seit Jahrzehnten durch einschlägige Begriffe wie „Verfassungsschutz“, „Verfassungsfeind“, „V-Mann“, „Gesinnung“, „Berufsverbot“ oder auch – früher mal – „FDGO“. Dumm nur, insbesondere für den Verfassungsschutz, wenn die Trigger aus der Fiktion in die Wirklichkeit wandern und anschließend wiederum die Fiktion befeuern. Wenn beispielsweise mit etwas Verspätung herauskommt, dass der Thüringer Verfassungsschutz indirekt über einen V-Mann die abgetauchten Mitglieder des NSU finanzierte. Oder erinnern wir uns an den damaligen Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme, der im Kasseler Internetcafé saß, als Halit Yozgat von dem NSU ermordet wurde, aber davon nichts mitbekommen haben will. Oder an geschredderte Akten im Umfeld der NSU-Ermittlungen. Oder an das Verbotsverfahren gegen die NPD 2001, das 2003 eingestellt werden musste, als sich herausstellte, dass die Führungsetage der Partei von V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt war. Oder an den Berliner V-Mann und Agent Provocateur Peter Urbach, der die Berliner Szene um die Kommune I mit Mollies und Waffen versorgte und wohl auch mit der Aktion gegen das Jüdische Gemeindehaus am 9. November 1969 zu tun hatte. Bevor aus der Trias aus Vorurteil, Fiktion und Wirklichkeit ein Perpetuum Mobile wird, ist man gut beraten, einmal die Wirklichkeit genauer in den Blick zu nehmen: Wer beschützt uns vor denen, denen wir das Recht eingeräumt haben, uns vor den Feinden »unserer« Demokratie, vor extremistischen Tendenzen zu schützen? Dumm gelaufen, wenn der oberste Verfassungsschützer selbst ein Extremist ist, der beispielsweise die aktuelle Migrationspolitik charakterisiert, als „Ausdruck einer rot-grünen Rassenlehre, nach der Weiße als minderwertige Rasse angesehen werden und man deshalb arabische und afrikanische Männer ins Land holen müsse.“ Nun ist der kleine Mann mit der Himmler-Brille Geschichte oder jedenfalls nicht mehr in Amt und Würden, aber dass jemand wie Hans-Georg Maaßen in dieses Amt gelangen konnte, spiegelt die Ursprünge des Amtes, zumal dessen erste Generation an Fachkräften als einschlägig NS-vorbelastet gelten musste. Doch weniger die Geschichte als vielmehr die Gegenwart des Amtes, das seine Handlungsparadigmen gerne intransparent hält (Wer bestimmt wann, was als »extremistisch« eingestuft werden muss? Wer kann als »gesichert extremistisch« eingestuft werden? Wer ist Verdachtsfall? Die thüringische AfD oder die „Letzte Generation“ oder Feine Sahne Fischfilet oder Bodo Ramelow?) und dessen Entscheidungsverfahren nicht objektiv und unabhängig, sondern politisch gefärbt sind (Stichwort: Ex-Innenminister Horst Seehofer), war Anlass für den Juristen und Journalisten Ronen Steinke, einmal einen intensiveren Blick hinter die Kulissen des Amtes für Verfassungsschutz zu werfen. Letztlich birgt der Inlandsgeheimdienst die immanente Gefahr für die Demokratie, dass die herrschende Politik bestimmte oppositionelle Aktivitäten als »extremistisch« brandmarken kann und damit den politischen Wettbewerb verzerrt. Insofern ist es nur konsequent, dass die AfD aktuell die Verfassungsschutzberichte als politisch motiviert kritisiert, allerdings die Existenz des Verfassungsschutzes nicht in Frage stellt. Wer weiß schon, wofür dieses Instrument noch mal dienstbar sein wird? Für seine Recherche sprach Steinke mit V-Leuten, besichtigte getarnte Büros, macht auf die föderale Struktur der 16 Landesämter und ihre divergierenden Präferenzen aufmerksam und fragte auch nach der Bedeutung von Social Media für die Ausforschung der Bürger*innen. Steinke plädiert als Fazit seiner Recherche für die Auflösung des Amtes und eine Neuverteilung der Aufgaben an die Polizei, was sicherlich diskussionswürdig ist, wenn man Richtung Hessen denkt. Staatsbürger*innenkunde, gepaart mit aberwitzigen bis obskuren Anekdoten aus dem Alltag einer aus Ruder gelaufenen Behörde – unterhaltsam wird’s werden.
Andere Vorurteile. Menschen vom Fach rätseln bekanntlich seit vielen Jahren nach den Gründen, warum Pop aus Österreich, aus Wien immer eine Spur cleverer oder verstrahlter ausfällt als Pop von Kolleg*innen aus heimischer Produktion. Als ein weiterer Beleg dieser These gelten Bipolar Feminin, die es aus Ebensee im Salzkammergut nach Wien verschlagen, wo das Quartett um die Sängerin Leni Ulrich mit dem Debütalbum „Ein fragiles System“ für etwas, was man in Wien schon Aufmerksamkeit nennen muss. Auf alles wird geschissen, dazu Rockmusik irgendwo zwischen The Cure und Tocotronic, wobei in Ulrichs Texten auch noch Platz für Rotz, Popel, Feminismus und Arne Zank ist. Wenn wir die nebenher hochgradig sehenswerte Musik- und Szenedokumentation „Vienna Calling“ dahingehend richtig verstanden haben, dass die Pop-Ösis wie Voodoo Jürgens & Co. sich deshalb um Qualität bemühen, damit wir hier weiter unseren fiktiven Wien-Mythos feiern können, dann bleibt uns nur zu sagen: Danke fürs Stadtmarketing, Bipolar Feminin!
Shocking Blue, Golden Earring, George Baker Selection, The Cats, Vader Abraham, Herman Brood, Grupo Sportivo, The Shoes, Cuby & the Blizzards, Mouth & MacNeal, Ekseption, Pussycat. Bezogen auf die Fläche des Landes haben die Niederlande eine erstaunliche Liste von Verbrechen an der Popmusik auf die Beine gestellt. Als Entlastungszeugen fallen spontan und auf die Schnelle nur Focus, Nits, Han Bennink und das Willem Breuker Kollektief ein, wobei die beiden letztgenannten eher nicht als Pop durchgehen. Ob auch dieses Vorurteil revidiert werden muss, zeigt das Trio The Homesick. Nee, nicht ob, sondern dass!
Eure
Manufaktur