Zum Geleit

März 2023

Liebe Freund*innen der Manufaktur,

vielleicht habt ihr die Geschichte schon mal gelesen, aber sie erzählt sich immer wieder gut – vor über sechs Jahren erschien das Album bzw die Doppel-Seven-Inch „Kohlrübenwinter“ der großartigen Punk-Band Pisse aus Hoyerswerda. Das Cover ist in einem unsubtilen Knallgelb gehalten – eine Banane in Nahaufnahme. Auf dem Album fanden sich eine ganze Reihe von potenziellen Hits, zum Beispiel „Vernissage“, tolle Song-Titel wie „Dienstleistungsgesellschaft“ nicht zu vergessen – und „Fahrradsattel“. Mit dem hypnotischen Refrain „Aber ich will dein! Fahrradsattel sein!“ Hits waren das aber erstmal nur ästhetisch, nicht in Sachen Massen-Aufmerksamkeit oder gar wirtschaftlich. Ein paar Fans waren begeistert, ein paar kinky people ebenfalls, das Manufaktur-Büro begann wieder an Punkrock zu glauben, die Nachbarn beschwerten sich, ansonsten geschah nicht viel.

Etwa fünf Jahre später, seit Ende 2021, änderte sich das. Die Aufrufe des Songs beim waffenindustriefinanzierenden schwedischen Streaming-Monopolisten gingen durch die Decke. Von einigen zehntausend auf eine Million, fünf Millionen, 20 – inzwischen sind es 60 Millionen Plays. Und zwar nicht einfach aus Deutschland, Österreich, der Schweiz – sondern so ziemlich überall auf der Welt – aus Asien, Süd- und Nordamerika, Osteuropa. Die vielen Spotify-Plays und dann einige Zeitungsberichte darüber informierten zumindest diejenigen unter uns über den plötzlichen Pisse-Hype, die nicht alle drei Minuten die TikTok-App öffnen. Denn dort kam der Hype her. Die Geschichte des Fahrradsattel-Erfolgs auf TikTok lässt sich u.a. in der taz nachlesen, wir erzählen sie hier nicht in Gänze nach, ostasiatische Anime-Accounts spielen eine größere Rolle, Texte über Alltag und Depression, insgesamt unterlegten etwa 25.000 Leute unterlegten ihre TikToks – nicht einfach Choreographien, sondern Edits/Zusammenschnitte unterschiedlicher Art – mit dem Song.

Und jetzt im März sind sie endlich auch bei uns – als Krönung des ohnehin schon ziemlich luxuriösen Monatsprogramms. Mit Zweilaster aus Stuttgart! Absurde, laute, entschlossene, verträumte, verstrahlte Musik.

Eine tolle Geschichte, aber können wir ihr nicht noch ein bisschen mehr Bedeutung verleihen? Was besagen die weltweite Begeisterung für den Fahrradsattel und die Verbreitungswege dieses Kulturtransfers über unsere Welt? Und unsere Utopien?

Und ob wir das können. It goes a little something like this.

Alle reden von der Deglobalisierung. Im SPIEGEL lesen wir, die Welt zerfalle wieder in Blöcke. Die strategisch wichtige industrielle Produktion (Chips, Batterien…) wird – hochautomatisiert – heimgeholt. Die sonst so wirtschaftsliberalen USA pumpen Milliarde um Milliarde in Subventionen für die heimische Wirtschaft. Die Zölle sind plötzlich wieder sexy. On-shoring statt off-shoring. Adieu, Globalisierung – so könnte man meinen. Aber die TikTok-User dieser Welt halten dagegen: Globalisierung von kinky Punkrock statt von Produktionsketten! Freies Zirkulieren der Menschen weltweit statt freiem Zirkulieren von Finanzderivaten! Und das Kapital… soll gucken, wo es bleibt.

Eure

Manufaktur

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